Mittwoch, 18. Mai 2016

Wenn der Regen dich berührt

Es ist eine klare Nacht, die Sterne leuchten vom wolkenleeren Himmel auf die Bäume herab, deren Blätter vom leichten Wind bewegt werden. Dort im Park steht ein Brunnen, in dessen Wasser sich der Mond spiegelt. Im Schimmer des Mondlichts blitzen die vielen Kupfermünzen am Boden des Brunnens auf. Er hat schon so viele Wünsche gehört. Wünsche von verzweifelten Mädchen, deren Liebe nicht erwidert wird, Wünsche von verzweifelten Männern, die fürchten ihre Familie nicht angemessen zu versorgen, Wünsche von verzweifelten Müttern, im Glauben bei ihren Kindern versagt zu haben, Wünsche von Kindern, die nichts mehr als Süßigkeiten wollen, und Wünsche von Emilie, die sich wünscht, dass es regnet.
Mit einem weißen Sommerkleid und mit dunklen Augenringen läuft sie am nächsten Tag in der Morgendämmerung von ihrer Wohnung an den Eisenbahnschienen durch die ganze Stadt, an den Kirchen und gut besuchten Frühstückcafés vorbei, bis in den Park am nördlichen Ende der Stadt, direkt am Waldrand. Dort wirft sie eine handvoll Münzen in den Brunnen und bestaunt ihr Glitzern am Grund. Sie will nicht mehr den Sonnenschein, der ihr in den Augen schmerzt und ihre bleiche Haut verbrennt, und auch kein Schnee im Sommer. Sie wünscht sich Sommerregen, der so gut riecht im Wald und in den sie so viele Hoffnungen hat.
Denn das Grün der Bäume leuchtet heller, wenn es regnet, und ein Stein glänzt viel schöner, wenn es regnet, und der Brunnen füllt sich mit Regen und niemand sieht ihre Tränen, wenn es regnet.
Die Münzen am Grund des Brunnens glitzern und der Wind verweht die Wasseroberfläche, und doch schlagen dort keine Tropfen ein, der Brunnen füllt sich nicht, es regnet nicht.
Sie flieht vor der Sonne in die Dämmerung hinein, als es Abend wird. Langsam steht Emilie auf und klopft den Dreck von ihrem Kleid und läuft mit hängenden Schultern davon.
Der Wind heult durch die Bäume und lässt die Blätter rascheln, die Vögel singen ihr buntes Lied. Und aus dem Brunnen hallt wider eine wunderschöne Melodie. Doch Emilie hört sie nicht und geht.
Nur um am nächsten Tag wieder zu kommen
und erneut eine handvoll Münzen in den Brunnen zu werfen.
Die Münzen zerstören den Spiegel der Wasseroberfläche und schlagen kleine Wellen. Emilie beobachtet heute nichtmehr das Glitzern der Münzen, das hat sie schon so oft gesehen, sondern sie folgt den Wellen auf dem Wasser und spricht ihren Wunsch. Die Oberfläche glättet sich wieder und nichts geschieht. Enttäuscht lässt sich Emilie zu Boden fallen und verbringt wieder einen Tag an der Seite des Brunnens mit ihrem unerfüllten Wunsch im Herzen. Sie steht auf und hebt ein Blatt, das ihr gerade vor die Füße gefallen war, mit auf. Motivationslos und frustriert lehnt sie sich noch für einen Moment auf den Brunnenrand und fährt mit dem Blatt die Wellen vom Morgen auf dem Wasser nach. Um sie herum heult wieder der Wind durch die Bäume und die Vögel singen. Und dieses Mal hört sie die Melodie. Eine langsame, leise und traurige Melodie.
Sie beginnt zu weinen, als die ersten Regentropfen ihre Haut kühlen. Nicht weil der Schmerz so unerträglich war, den ihr die Sonne verursacht hat, sondern weil der Schmerz, der jetzt wieder kommt, so stark ist.
Es regnete auch an dem Tag, an dem ihre Mutter starb. Und ohne Mutter flieht Emilie seitdem vor der Einsamkeit in den Wald zum Brunnen hinein, wo sie alleine ist. Und seitdem flieht sie vor der Stille, die sie verfolgt, in den Wald hinein, wo es ruhig ist und sie erst jetzt die Melodie hören konnte.
Und der Regen ruft ihre Erinnerungen hervor und sagt ihr wie sehr sie ihre Mutter vermisst.
Der Brunnen weint mit ihr, kommt seine Oberfläche doch nicht zur Ruhe und wird nicht glatt, ständig aufgewühlt von dem einschlagenden Regen.
Und auch wenn ihr Wunsch in Erfüllung ging, hat es sogleich ihren Traum zerstört. Sie träumte davon, dass ihre Mutter zurückkehrt,
wenn es regnet.