Montag, 7. September 2015

Ein Gedanke zu viel

Seine Schritte führten ihn durch die Menschenmengen auf den Straßen. Er schien einfach ein Teil zu sein. Ein unbeachteter Teil der Mengen, seinen eigenen Gedanken nachhängend, Student. In einer Studentenstadt. Nichts ungewöhnliches.
Doch wenn der Rest es nur wüsste. Wenn er wüsste, dass die Sorgenfalten auf der blässlichen Stirn nicht von dem Druck auf der Uni oder Beziehungstress rührten. Womöglich würden sie ihn noch mehr verachten als er sich selbst.
Vor seinem inneren Auge führte er sich die Blicke vor, die sie ihm zuwerfen würden.  Voller Ekel und Hass. Kein Verständnis oder Mitleid würde darin zu finden sein. Warum auch? Er selbst konnte es nicht nachvollziehen, kannte sich selbst nicht mehr. Warum ausgerechnet er? Konnte er nicht einfach sein Studentendasein normal weiterführen, wie jeder andere auch? Warum musste er das Monster sein, die Gefahr, die tickende Zeitbombe?
Fast wie eine Antwort erklang das Kinderlachen zu seiner Rechten. Erstmals hob er den Blick, welcher sofort auf den kleinen, gut besuchten Spielplatz fiel. Ein nahezu sehnsüchtiges Lächeln huschte über seine Lippen. Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, während sein Blick dem Mädchen folgte, das auf der Schaukel saß. Auf und ab, auf und ab. Wieder stieg das bekannte und doch so fremde Gefühl in ihm auf. Tiefe Zuneigung, Verlangen, Erregung. Er blieb stehen und hasste sich sofort wieder dafür, als ihm eine hübsche, junge Frau mit Kinderwagen zulächelte.
Diese Freundlichkeit wurde nie von ihm erwiedert. Er verließ seinen Standort fluchtartig, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Er wollte nicht in Versuchung kommen, niemals, sich nicht noch mehr hassen müssen, als es ohnehin schon der Fall war.
Die Flucht vor sich selbst würde endlos sein, kräftezehrend. Seine Schritte wurden immer schneller,  seine Füße fanden wie von selbst den Weg zu seiner Wohnung, dem einzigen Fluchtort, der ihm jetzt noch blieb.
Erst das Klimpern seiner eigenen Schlüssel, die er aus der Hosentasche zog, brachte ihn zurück in die Wirklichkeit. Er starrte die Glastür zum Treppenflur einige Sekunden an, bevor er sie aufschloss.
Normalerweise hätte er den Aufzug genommen, aber er wusste, dass er die Stille nicht ertragen konnte, die Spiegel, in denen er sich dort sehen würde. Jetzt waren es seine Schritte, auf die er sich zu konzentrieren versuchte, die durch den Flur hallten. Seine Gedanken schweiften dennoch zum Spielplatz, zu dem Kinderlachen, an der lächelnden Frau vorbei zu dem rothaarigen Mädchen in ihrem Kinderwagen, die versunken in einem Tagtraum schien, während sie an dem ausgefransten Ohr ihres Teddys knabberte. So naiv, so unschuldig. Er lachte unkontrolliert auf und legte eine zitternde Hand auf die Türklinke, nachdem er seine Wohnung aufgeschlossen hatte. Reingehen. Ruhe. Unerträgliche Ruhe. Er zog nicht einmal Schuhe und Jacke aus, ging bloß quer durch den Raum in sein Schlafzimmer, zur Stereo-Anlage. Musik würde die Ruhe und seine Gedanken übertönen.
Doch auch die Musik ließ ihn im Stich. Nicht nach fünf Minuten scherte sie ihm Frieden, nicht nach zehn und auch nicht nach einer halben Stunde. Und selbst als er eingeschlafen war, ließen seine Qualen nicht nach. Träume, zu schrecklich und verwirrend, um sie beschreiben zu können. Schweißgebadet und schwer atmend erwachte er. Der Mond und die Straßenlaternen warfen spärliches, kaltes Licht in sein kahles Zimmer. Ganz langsam richtete er sich auf, versuchte das Traum-Echo des Babyschreiens aus seinem schmerzenden Kopf zu verbannen. Schuhe ausziehen. Seine Bewegungen waren wie mechanisch, trotz seinem unkontrollierten Zittern. In den grauen Augen war nun ein Flackern zu sehen, das sich schon lange nicht mehr gezeigt hatte. Hoffnung. Jetzt stand für ihn fest, wie er es beenden wollte. Es würde besser so sein. Für alle. Für ihn, seine Familie, seine Freunde, seine Kollegen. Und für die Kinder. Er würde etwas für die Gesellschaft tun, da war er sich sicher. Die Gesellschaft, in die er nie mehr einen Fuß setzen konnte, aus Scham und Angst. Seine letzten Schritte führten in sein Badezimmer. Langsam und bedächtig.
Er schloss die Tür hinter sich. 

Vier Tage später wurde der 26-Jährige Student Simon Eckert tot in seiner Badewanne gefunden. Niemand wusste, warum. Einzig seine Mitstudenten und Lehrer sagten aus, er sei schon seit längerem nicht mehr bei sich gewesen, seine Leistungen hätten nachgelassen und bestätigten damit den Verdacht auf einen Selbstmord.

2 Kommentare:

  1. Mehr als gut beschrieben, wie jemand, der sich vor sich selbst ekelt/fürchtet/whatever, sich in sich selbst versteckt, bis er daran dann kaputt geht.
    Eine solche Darstellung des Themas, aus der Sicht des Betroffenen, zwingt einen förmlich dazu, Betroffene nicht vorurteilsmäßig in eine Schublade zu stecken (nicht jeder, der an so etwas leidet, hat eine Kleinkinderzucht im Keller), sondern als Außenstehender dazu beizutragen, dass Betroffenen Beistand vor Augen geführt wird und sie Hilfe annehmend aus sich herauskommen. Ich will da kurz mal anmerken, dass es ja massenhaft Hilfsorganisationen gibt. :)
    Also wirklich, echt beeindruckend. Verdammt gut geschrieben und noch besser das Thema aufgegriffen :D

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  2. unbeschreiblich aufwühlend. Mir tut mein Herz jetzt nach dem Lesen dieser Geschichte weh. Weiß nicht was ich sagen soll, also schreckliche Geschichte. Meine ich natürlich positiv und abgesehen davon sehr sehr sehr geil geschrieben. Sehr hohes Niveau, großen Respekt an dich!

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