Dienstag, 8. September 2015

Regentanz

Wieso steht er dort ? Es sieht aus als wäre er traurig, nur weint die Welt um ihn herum und nicht er selbst. Der Regen durchnässt seine Kleidung und einzelne Tropfen fallen an seiner Nasenspitze herab, die Kapuze schafft es schon lange nicht mehr die Haare trocken zu halten. Er ist durchnässt, bestimmt friert er und doch steht er dort wie eine Statue, den Witterungen ausgesetzt, ganz alleine auf der Straße, im Regen.
Er beobachtet sich selbst in der Pfütze, die sich langsam vor ihm gebildet hatte und ihm nun als Spiegel dient. Er beobachtet sich selbst, aus müden Augen heraus, die ihm, von dunklen Ringen betont, entgegenstarren. Die Tropfen laufen ihm über das Gesicht, nasse Bahnen hinter sich ziehend, und eine einzelne verlorene und nasse Haarsträhne klebt ihm auf der Stirn, in deren Falten sich Seen aus dem Regen bilden, Seen, die denen in seinen herabhängenden Mundwinkeln ähneln. Es ist genau das Bild, das ihm schon vor einer Stunde nicht gefallen hat und sich seitdem nicht mehr änderte. Es ist diese Person, die ihn so sehr anekelt, die ihm dort entgegenstarrt.
Das Bild wird zerrissen, als ein Regentropfen die Pfütze trifft und Wellen schlägt, es gibt nun kein Bild mehr, das ihm missfallen kann, nur die Wellen, die ein einzelner Regentropfen geschlagen hat und die sich immer weiter ausbreiten, den Rand des Spiegels erreichen und sich im Dreck der Straße verirren. Und so wie sich die Wellen verlaufen und die Hektik des Schlags verloren geht, so kehrt auch die Ruhe auf die Oberfläche der Pfütze zurück und ihm starrt wieder sein Spiegelbild entgegen. Die Seen, die in den Falten stehen, und die Tropfen, die nasse Bahnen hinter sich herziehen. Nur die Augen blicken ihn anders an. So kalt, so kalt, als wolle er die Pfütze zufrieren, in der Hoffnung sich nicht sehen zu müssen. Doch sonst haben sich die Augen nicht verändert, nur der, ihn verurteilende, Blick ist kälter geworden. Diese Kälte wird mit der von Verachtung erfüllten Häme in die Unkenntlichkeit verzerrt. Das Bild zeigt nichtmehr ihn, der sich dort selbst beobachtet, so durchnässt und einsam frierend im Regen.
Erneut wird das Bild zerstört, und der Platz der Verachtung seiner eigenen Person, die Entsetzen, über die Kälte in den Augen seinen Spiegelbilds, wich, wird nun von einem Gefühl der Erleichterung überschattet. Ein weiterer Tropfen traf auf die Oberfläche des Wassers und wieder breiten sich Wellen aus. Er beobachtet die Wellen ganz genau, wie und wohin sie sich ausbreiten, und obwohl sie von einem anderen Punkt ausgingen, verlaufen sie sich in den selben Gassen zwischen dem Dreck der Straße, bis sich die Wogen geglättet haben und die Pfütze wieder ruhig vor ihm steht. Und sein Blick verlässt die Gassen zwischen dem Dreck auf der Straße und sein Blick kehrt zu seinem Spiegelbild zurück. Ein Bild, das eine Stunde lang unverändert zu seinen Füßen lag und das ihm eine Stunde lang nicht gefallen hat und das sich nun alle paar Sekunden ändert. Die Kälte ist verschwunden und die dunklen Ringe unter den Augen strahlen nun nurnoch Müdigkeit und keine Verachtung mehr aus. Und diese Müdigkeit ist es, die ihm nun entgegenschlägt, die er selbst, dort im Regen stehend, gar nicht spürt, und die es ihm verwehrt von seinem eigenen Spiegelbild angeschaut zu werden. Wie friedlich sich das Bild dort in der Pfütze abzeichnet. Er beobachtet sich selbst und weiß, dass er nicht beobachtet wird. Sein Spiegelbild steht dort vor ihm in der Pfütze liegend mit geschlossenen Augen und ohne jegliche Spannung im Gesicht. Die Seen aus den Falten der Stirn laufen in Flüssen sein Gesicht hinab, auf Wegen, die sonst nur von Tränen genommen werden, und reißen die Seen aus den, nun nichtmehr herabhängenden, Mundwinkeln mit sich. Es ist ein Bild, das ihm nicht ganz missfällt, es zeigt diese Person in den Momenten, in denen er sich nicht vor ihr ekeln muss.
Obwohl ihm dieses Bild sogar gefallen könnte, schockt es ihn zutiefst. Er hat in wenigen Sekunden zu viel gesehen und zu viel gefühlt. Er sah, wie er sich selbst mit Kälte und Verachtung strafte und sah sich selbst in einem seiner harmlosesten Momente, er fühlte die Verachtung noch während ihn Entsetzen überkam und er spürte ihr Echo als er sich erleichtert anschauen konnte. Es ist diese Überflutung an Reizen, an Gefühlen, die er nicht gewohnt war. Eine Stunde stand er im Regen, durchnässt, sah sein Spiegelbild und spürte die Verachtung. Er spürte sie eine ganze Stunde lang, konnte sich daran gewöhnen und seinen Frieden mit dem Gefühl der Verachtung machen. Bis Entsetzen und Erleichterung kamen und den Wiederhall der Verachtung mit sich trugen. Der Frieden ist nur eine Illusion und sein schlafendes Spiegelbild war irreal. Das ist zu viel für ihn. Er ist durchnässt, er friert und seine Emotionen laufen Amok. Nun weint nicht nur die Welt um ihn herum, nun weint er mit ihr. Und die Tränen folgen den Wegen, die im Spiegel den Flüssen als Pfad dienten, und es tropft nun nichtmehr der Regen von seinem Kinn und seiner Nase, nun tropfen Tränen von dort. Er beobachtet nicht sein Abbild im Wasser, er schaut sich nicht den Dreck auf der Straße an. Seine Augen folgen der einen Träne, die am meisten des Schmerzes seiner inneren Zerissenheit in sich trägt. Und diese Träne weicht ab von den Wegen, folgt nicht dem knöcheren Pfad zum Abgrund hinter der Nasenspitze und folgt nicht dem Strom zum Kinn. Sie bahnt sich ihren Weg bis an die Klippe der Lippe, die so blau und matt schon seit Tagen kein Lächeln mehr vollbrachten, und stürzt sich von dort in die Tiefe. Es scheint fast, als könne er den sterbenden Aufschrei der Erleichterung aus der fallenden Träne hören, und als die Träne auf die Wasseroberfläche trifft und wie die Regentropfen zuvor das Spiegelbild in der Pfütze zerreißt, spürt er, dass die Verachtung ihre Vormacht zurückgewinnt, ihn übermannt und, kurz nachdem die friedliche Darstellung dieser Person in den Wellen ertrank, auch eben jenes Bild aus der Erinnerung verdrängt.
Seit über einer Stunde steht er im Regen, unbewegt, durchnässt und frierend, mit einer Pfütze vor seinen Füßen und glich einer Statue, bis er anfing zu weinen. Seine Tränen vereinen sich mit dem Regen um ihn herum und sind Zeuge dessen, was er in der letzten Stunde durchlebte. Der Regen wird stärker und in der Pfütze wird sich nun kein Spiegelbild mehr zeigen können, zerbrochen ist die Oberfläche und Wellen folgen Wellen folgen Wellen. Es ist unmöglich etwas anderes als Wasser und Dreck in der Pfütze zu erkennen und doch sieht er sein Abbild ganz genau. Ein Abbild, das ihn kurz zum Lächeln bringt. Er lächelt, weil er jetzt in der Pfütze einen Spiegel gefunden hat, der ihm nicht zeigt wie er aussieht, sondern wie er ist. Die blauen matten Lippen tragen ein Lächeln und der Regen versteckt die Trauer der Tränen, die über diese Lippen laufen, Trauer, weil das Lächeln nicht die Erfüllung des Wunschtraums von Freude bezeugt, sondern nur stumpfe Einsicht. Weinend und lächelnd schaut er hinab in den Spiegel. Er sieht dieses Abbild, das ehrlich ist, das ihm deswegen sogar gefällt. Ein Abbild von einer Person, die ihn so sehr anekelt, einer Person, deren Innerstes dem Chaos, der sich gegenseitig brechenden Wellen, gleicht und die sich im Dreck auf der Straße wiedererkennt.

1 Kommentar: