Samstag, 29. August 2015

Erster Tag - Komm hoch und fang mich, Teil 4

"Ich weiß nicht, ich fühle mich so anders. Und gleichzeitig doch genau wie immer, nur leichter. Und frei, ungebunden."
"Aha?"
"Du verstehst nicht was ich meine ?"
"Nein, ich fühle mich einfach nur prächtig, anmutig, wie eine Feder im Wind."
"Weißt du was ich nicht verstehe ? Wieso bin ich ein Engel ?"
"Was meinst du ?"
"Ich hab gesündigt, ich habe gemordet. Ich sollte nicht im Himmel sein."
"Sagt wer ?"
"Na, Gott ?"
"Paah. Was die Kirche erzählt ist Unsinn. Es gibt keinen Gott. Nichtmehr, er ist tot. Die Engel entscheiden wer in den Himmel darf und wer nicht. Ich wollte dich hier, Papa."
"Ja, danke. Also hab ich die ganze Zeit die Kirchensteuer unnötigerweise bezahlt ?"
"Ja, aber ist doch egal, du hast mir versprochen wir spielen."
"Das habe ich. Los geht's !"
Kein Gott, das muss man erstmal verkraften. Gott ist tot ? Die Engel entscheiden wer in den Himmel darf ? Und was passiert mit denen, die im Himmel niemand will ? Schreckliche Schwiegermütter zum Beispiel oder nervige Geschwister, wo kommen die hin ?
Sie will also spielen ? Nun gut, dann spielen wir. Wozu bin ich schließlich hoch gekommen ? Fangen spielen. Sie huscht von einer Wolke zur nächsten, fliegt über einige andere Wolken hinweg, und das mit einer Anmut, wow, sie ist echt ein Tänzerin.
"Fang mich, fang mich". "Augen auf ! Ich komme", nun, diese Ansage war etwas übereilig gesagt. Laufen klappt noch, aber auf einer Wolke laufen ist wie am Strand zu sprinten, und wie zur Hölle fliegt man ? Nein, nicht zur Hölle, falsche Richtung, aber wie fliegt man ? Mal sehen, über die rechte Schulter schau ich schnell mal rüber und ja, da sind eindeutig Flügel, sie sehen aus wie Flügel und sie sind an mir dran. Perfekt. Und wie benutze ich das ? Vielleicht gehen sie ja mit, wenn ich mit den Armen flattere.
Nun steh ich da, auf einem Fleck, die Füße in den Wolken versenkt, die Flügel regungslos am Rücken hängend, aber mit den Armen wedelnd wie ein Irrer. Nichts, da tut sich nichts.
Immerhin habe ich die Kleine zum Lachen gebracht, auch wenn sie nicht mit mir lacht, da ich nicht lache. Hey, die Kleine lacht mich tatsächlich aus. Woher soll ich denn bitte wissen wie fliegen funktioniert ?
"Komm mal bitte her." Ich hoffe der strenge ich-bin-dein-Vater-Tongfall funktioniert. "Wie kann ich fliegen ?"
"Ach Papa, das ist doch ganz leicht. Komm ich zeigs dir." Sie zieht vor mir einen Kreis in die Wolken, wie in Sand.
"Du streckst deinen rechten Fuß rein...", ich strecke meinen rechten Fuß rein, "... du nimmst deinen rechten Fuß raus...", ich nehme meinen rechten Fuß raus, "...du streckst deinen rechten Fuß rein und schüttelst ihn...", ich strecke meinen rechten Fuß rein und schüttel ihn,"...nun machst du den HokeyPokey und drehst dich im Kreis, und so funktioniert das.",
"Moment mal, das ist ein Kinderlied.", na super, jetzt kann sich die Kleine vor Lachen nichtmehr halten. Freches Kind. Wie konnte ich nur auf so etwas hereinfallen ?
"Na warte, das zahl ich dir zurück.", sag ich ihr mit einem Lachen im Gesicht, sie lacht nur noch mehr.
Nachdem wir uns beide ausgelacht haben, weiß ich zwar wieder wie der HokeyPokey funktioniert, nur hilft mir das wenig, ich weiß immernoch nicht wie man fliegt.
"Jetzt bleib mal ernst. Wie fliegt man ?"
"Du noch gar nicht. Schau wie schlaff und unbewegt deine Flügel an dir runter hängen. Du hast sie, ja, aber du kannst sie nicht spüren, hab ich recht ?"
"Das stimmt"
"Spring!"
"Was ?"
"Du sollst springen."
Also spring ich. Und wieder. Und noch ein Sprung. Das ist ordentlich anstrengend, schließlich versinke ich jedes mal wieder in der Wolke, aber ich könnte das den ganzen Tag machen.
"Und jetzt ?"
"Ja Papa, das ist doch klar. Du sollst den Wind spüren. Spürst du ihn ?"
"Ääähm... Nein", Enttäuschung macht sich in mir breit, nur sie steht da und grinst.
"Dann dreh dich im Kreis."
Na dann mal los. "So ?", ich dreh mich richtig schnell. Ich glaube, wäre ich ein Mensch, wäre mir jetzt schon schlecht. Aber mir wird nicht schlecht, mir geht es gut, und ich drehe mich weiter und weiter. Die Fliehkräfte ziehen an mir, meine Arme heben sich und werden nach außen gezogen und auch meine Flügel heben sich und ich spüre den Wind, nicht in den Flügeln, aber an den Fingern, vorne in den Fingerspitzen, und ich drehe mich immer schneller und spüre den Wind an der ganzen Hand, den Armen, an meinem ganzen Körper und schließlich auch in den Flügeln. Es kribbelt plötzlich dort, wo die Flügel an meinem Rücken ansetzen und auch das Kribbeln breitet sich aus, ich kann nicht sagen wohin genau, aber nun kribbelt es bis in die Flügelspitzen und ich kann nun endlich meine Flügel spüren.
"Ich spüre sie. Ich kann sie spüren !",
"Den Wind ?",
"Nein, meine Flügel !", und ich höre mich auf zu drehen und grinse sie an und sie grinst zurück, aber mein Grinsen ist deutlich breiter.
"Dann versuche sie zu bewegen",
Ich konzentriere mich ganz auf das Kribbeln, versuche anhand des Gefühls ihr Gewicht und ihre Form und ihre Beweglichkeit zu erahnen. Wenn ein Mönch davon redet man müsse sich selbst fühlen, dann meint er wahrscheinlich genau das.
Ich merke wie mich die Kraft der Flügelschläge nach oben drückt, wenige Zentimeter nur, und dann fall ich wieder runter. Es ist echt schwer die Flügel zu im gleichen Rhythmus zu koordinieren, aber es fühlt sich an wie in die Hände Klatschen, das schaff ich schon noch.
"Gut gemacht Papa. Die ersten Flügelschläge",
"Ja, aber ich bin trotzdem wieder gefallen",
"Es ist leichter wenn du beim fliegen am Anfang im Takt in die Hände klatscht."
Dann probier ich es halt mal. Sollte mich irgendjemand beobachtet haben, dann hab ich mich schon mit dem rumhüpfen und der Pirouette genug blamiert, dann kann ich jetzt auch noch klatschen. 
Dieses Mal flieg ich höher als nur ein paar Zentimeter, viel höher, und vorallem länger, und im Gleichtakt. Und dann änder ich den Rhythmus und schlag langsamer mit den Flügeln. Doch ich fall nicht. Ich will mich selbst nicht überragend optimistisch hören, aber ich glaube, ich hab den Bogen raus, ich kann fliegen.
"Komm Papa, fang mich"
Und die Kleine fliegt los, anmutig, wahrscheinlich anmutiger als ich es bisher kann, und schnell, wahrscheinlich zu schnell für mich. Wie soll ich sie nur fangen ? 
Nunja, irgendetwas muss ich ja tun, also los, ihr hinterher. Die Flugfähigkeit ist wohl in den letzten Sekunden wieder eingerostet, ich komme nur schleppend voran, langsame, schlecht koordinierte Flügelanderes. Auf der Stelle hoch fliegen ist leicht und sich mit langsameren Schlägen wieder abzusenken auch. Aber eine Vorwärtsbewegung ist was anderes und dann muss ich auch noch schnell fliegen. 
Und sie tanzt um die Wolken und auf den Wolken herum. Ich hingegen stolper eher durch die Luft wie ein Besoffener, der in eine Pfütze fällt.
Ein stundenlanges Spiel neigt sich dem Ende zu als es auch im Himmel Abend wurde. 
Das Licht verlor sich in der Finsternis und der Tag wurde von der Nacht abgelöst, wie es seit dem ersten Tag so war.
Sie wollte eh nichtmehr spielen, ich wurde zum Ende hin immer besser und schneller. Anscheinend kann sie einfach nicht verlieren. 

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